© Audatic

12 März 2019

Peter Udo Diehl von Audatic und seiner KI-Lösung, die Schwerhörige besser hören lässt.

Wie bitte?! Ohrengeräusche (Tinnitus), Schwerhörigkeit oder Hörsturz – Hörbeeinträchtigungen wie diese betreffen in Deutschland längst nicht nur ältere Menschen. Laut Schätzungen desDeutschen Schwerhörigenbundes e.V.“ waren Ende 2015 über 5 Millionen Menschen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren schwerhörig, bei den 20 bis 60-Jährigen 44,6 Millionen und von den über 60-Jährigen konnten 22,5 Millionen Menschen nicht mehr richtig hören. Eine Studie des „Institutes für Hörtechnik und Audiologie der Jade Hochschule“ aus dem Jahr 2017 nimmt an, dass rund 16 Prozent aller Erwachsenen der Bundesrepublik schwerhörig sind. Die Folgen sind enorm: Jede Unterhaltung, in der man das Gegenüber nicht sieht oder Hintergrundgeräusche auftreten, wird zur Qual. Betroffene ziehen sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, leiden verstärkt unter Stress, Schlafstörungen und Schwindel, die kognitive Leistungsfähigkeit nimmt ab. Das Risiko an Demenz oder Depression zu erkranken verdoppelt sich sogar.

Peter Udo Diehl, CEO Audatic © Audatic GmbH

Intelligente Unterstützung für den Hörsinn

Die gute Nachricht: Hörgeräte können hier Abhilfe schaffen und Unterstützung für den angeschlagenen Hörsinn bieten. Vorausgesetzt, sie werden verwendet. Genau darin liegt aber das Problem: Rund 80 Prozent der Schwerhörigen im Alter von 54 bis 75 Jahren nutzen die Helferlein im Ohr nicht oder nicht regelmäßig. 92 Prozent der Leute, die ein Hörgerät haben, aber nicht nutzen, sagen, dass Hintergrundgeräusche eines der größten Problem sind”, erklärt Peter Udo Diehl. Er muss es wissen, hat er sich doch gemeinsam mit seinem früheren Studienkollegen Elias Sprengel, den er bei seinem Ph.D. zwischen 2013 und 2016 an der „Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich – ETH Zürich“ kennengelernt hat, dieses Problem zum Beruf gemacht – oder vielmehr die Lösung desselben. „Wir waren beide von MedTech und AI fasziniert“, erklärt der CEO, „Elias hat schon an der ETH an Sound-Klassifizierungen und damals bei Google an Machine Learning gearbeitet. Ich habe während meines Master-Studiums in Kooperation mit dem University College London (UCL) Studien zu Hörwahrnehmung durchgeführt und bei McKinsey & Company KI-Strategien für Unternehmen erarbeitet.“ Das fachliche Interesse an Hörtechnologie und Hören stimmte überein, das Persönliche sowieso – die Gründung eines gemeinsamen Start-ups schien nur die logische Folge. Also haben die beiden ihre Jobs gekündigt und im Januar 2018 das Start-up Audatic zum Leben erweckt. Seither schreibt das mittlerweile 10-köpfige internationale Team Erfolgsgeschichte. Grund dafür ist das bahnbrechende Produkt: Eine Software, bei der modernste Algorithmen mithilfe von neuronalen Netzwerken Töne erkennen und Störgeräusche von Sprache trennen. So entsteht eine personalisierte Klangumgebung, in der selbst Schwerhörige wieder hören können. Denn: „Hörgeräte funktionieren wunderbar in leisen Umgebungen und 1:1-Settings, kommt aber Straßenlärm hinzu oder befindet man sich in einem belebten Restaurant, wird das Verstehen aufgrund dieser Hintergrundgeräusche schwierig“, so Diehl, der unter anderem an der „TU Dortmund“, der „Humboldt University of Berlin and TU Berlin“ sowie dem „University College London – UCL“ studiert hat, „wir nutzen aktuelle Methoden des Deep Learnings, um die Hintergrundgeräusche herauszufiltern und so das 1:1-Setting wiederherzustellen.“

Kleine Künstliche Intelligenz ganz groß

Es ist nicht die einzige Innovation. Während die neuronalen Netzwerke von KI-Systemen üblicherweise auf großen Servern angewendet und trainiert werden, setzt das Berliner Team auf das Motto „Klein, aber oho.“ „Letztes Jahr haben wir daran gearbeitet, unsere Software vom Server auf den Laptop und aufs Smartphone zu bringen“, meint Diehl, der samt Co-Founder Sprengel kürzlich auf „Forbes 30 under 30“-Liste gelandet ist, „aktuell werden viele neuronale Netzwerke mit Computergenauigkeit von sieben Stellen nach dem Komma gerechnet. Sie müssen aber gar nicht so genau sein. Das Schöne ist: Selbst wenn die Genauigkeit um 80 – 90 reduziert wird, bleibt die Funktionalität erhalten. KI-Systeme sind damit ähnlich fehlerrobust wie unser Gehirn.“ Der Schritt, die Audatic-Software aufs Smartphone zu bringen, ist dem Team bereits gelungen. Es liegt auf dem Tisch, säubert die Umgebung von Hintergrundgeräuschen und sendet die verständlichen Signale in Echtzeit ans Hörgerät. „Bis die Technologie allerdings im Hörgerät sitzen wird, werden noch zwei bis drei Jahre vergehen“, schätzt Diehl. Ebenso mittelfristig kann er sich eine andere Anwendung der Audatic-Technologie vorstellen. „Die Welten von Hörgeräten und Hearables wie den kabellosen Kopfhörern AirPods verschmelzen immer mehr“, weiß der Jungunternehmer, „heute schon kann man das iPhone auf den Tisch legen und Musik auf AirPods streamen. Vielleicht kann man bald im lauten Restaurant die Hintergrundgeräusche um 50 Prozent reduzieren. Und wenn Klara am Tischende leiser spricht, kann ich ihre Stimme lauter machen. Oder ich kann in der Großstadt den Verkehrslärm ausblenden, dafür aber Vogelgezwitscher verstärken und so meinen Tag angenehmer gestalten.“

Berlin: Zentrum der HealthTech-Lösungen

Wie gut ein solches Hörerlebnis nicht nur unseren Ohren tut, sondern auch unsere Lebensqualität positiv beeinflusst, das bestätigen Nutzer nach den ersten Tests der Audatic-Software: „Wir haben 50.000 Audiobeispiele mit Menschen ohne Hörverlust und auch mit einer Handvoll Hörgerätträger getestet“, erzählt Peter Udo Diehl und fügt hinzu: „Derzeit sind wir mit der HNO-Abteilung der Berliner Charité im Gespräch, um eine klinische Studie durchzuführen.“ Verläuft alles nach Plan, hofft das Team bereits in zwei bis drei Monaten damit starten zu können. Am Kooperationspartner jedenfalls soll das Ganze nicht scheitern: „Die Charité war begeistert von der Partnerschaft“, berichtet der KI-Experte, „sie haben den Drive und freuen sich, unser Produkt mit uns weiterzuentwickeln.“ Der Zuspruch der renommierten Universitätsklinik ist für den Start-up-Gründer nicht das einzige Zeichen dafür, mit Berlin die richtige Standortwahl getroffen zu haben. Auch die Nähe zu Forschungseinrichtungen wie der Technischen Universität Berlin sowie dem Bernstein Center for Computational Neuroscience Berlin machte sich für Audatic bereits bezahlt. So hat nicht nur Diehl selbst dort seinen Master gemacht (und sein Faible für Künstliche Intelligenz im Zusammenhang mit dem menschlichen Hören entdeckt), auch einer der ersten Praktikanten des Start-ups kam aus dem Programm. „Deep Learning für mobile Geräte muss super effizient und zeitgleich passieren, da brauchen wir die Nähe zu den Universitäten“, ist Diehl überzeugt, „wir brauchen die Nähe zu den besten Talenten und zur besten Technologie. Beides geht Hand-in-Hand. Das Wissen kommt mit den richtigen Leuten.“ Es waren vor allem diese „richtigen Leute“, die von Anfang an für Berlin gesprochen haben – buchstäblich: „Bei der Gründung hatten wir drei Hauptkandidaten: London, Berlin, Zürich“, so der gebürtige Geraer, „wir hatten eine Wunschliste an potenziellen Mitarbeitern aus aller Welt und haben diese gefragt, wo sie am liebsten hinziehen möchten. Ein KI-Start-up lebt oder stirbt schließlich mit den Talenten. Die Wahl ist eindeutig auf Berlin gefallen.“

Es scheint die richtige Entscheidung gewesen zu sein: So konnte sich Audatic im November 2018 als bestes HealthTech-Start-up gegen 30 Einreichungen durchsetzen und wurde mit dem „Digital Health Award“ der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe ausgezeichnet. Ein Preis, der das junge Unternehmen nicht nur mit einem Schlag noch bekannter machte, sondern auch dabei helfen kann, Investoren und Kooperationspartner zu finden. Während das Finanzielle derzeit dank privater Investoren, Forschungsgelder und dem „Europäischen Fonds für regionale Entwicklung“ gut abdeckt ist, sind vor allem Letztere derzeit gefragt. „Wir möchten mit ein bis zwei Hörgerätehersteller kooperieren“, erklärt Peter Udo Diehl die nächsten Schritte, „aber auch mit Telefonherstellern sind wir im Gespräch. Für Normalhörende kann es schließlich herausfordernd sein, am Flughafen oder im Zug den Hintergrundlärm auszublenden.“

Ob Hörgeschädigte oder Normalhörende, eines scheint sicher: Von Audatic wird in Zukunft noch jede Menge zu Ohren kommen...